Mein persönlicher 30.Januar 1933

Der europäische Riesling-Papst Stuart Pigott hat einen Albtraum, aus dem er irgendwie nicht mehr aufwacht. Mit Schluck teilt er seine Gedanken, die er unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung seiner Landsleute hatte. Kurz vor Weihnachten und dem neuen Jahr ist es Zeit für diesen sehr persönlichen Rückblick. Und vor allem ist es an der Zeit, auf ein harmonisches Miteinander in der Zukunft Europas zu hoffen.

#von Stuart Pigott#

Seitdem ich wenige Minuten nach 8 Uhr am Freitag, den 24. Juni im Zimmer 101 des Hilton Hotels in der Mainzer City aufgestanden bin, hat mein Handy wie verrückt gebimmelt. Catwoman, eine bedeutende regionale Politikerin im Schwabenland, war die Erste meiner Freunde, die sich bei mir mit der schlechten „Brexit“-Nachricht gemeldet hat. Für den Rest des Tages ist sie zu meinem persönlichen Nachrichtenservice geworden.

Während der Zugfahrt vom Mainzer Hauptbahnhof zum Frankfurter Flughafen und des Wartens auf den Flieger ist meine Stimmung immer weiter abgesackt. Die Tragweite des Geschehens ist mir mit jeder sms von Catwoman schrittweise klarer geworden. Beim vollen Bewusstsein haben sich meine Landsleute gegen ihre eigenen Interessen entschieden und somit eine Lawine ins Rollen gebracht. Nichts kann sie stoppen!

Am Gate textet mir Catwoman wie Cameron gerade zurückgetreten ist und sich der Pfund im freien Fall befindet. Für den Rest des Tages ist sie zudem auch meine Therapeutin geworden.

Berlin - Die Bundessaufstadt

An diesem Tag noch flog ich noch in die Bundessaufstadt - wie ich meine Wahlheimat Berlin nenne. Anfang 1989 habe ich England den Rücken gekehrt und bin nach Bernkastel an der Mosel gezogen bzw. in das ehemalige Westdeutschland umgesiedelt. Vier faszinierende Jahre lang habe ich das ehemalige Weinbaugebiet Mosel-Saar-Ruwer (inzwischen in „Mosel“ umbenannt) von „innen“ kennengelernt und bin von dort aus nach Frankreich, Italien, Portugal und die amerikanische Westküste in Sachen Wein-Recherche gereist. In dieser Zeit bin ich Europäer geworden.

Es war nur eine Frage der Zeit bis Berlins Anziehungskraft mich Ende 1993 gefangen hatte und fast 20 Jahre mit festem Wohn- und Schreib-Sitz in der Bundessaufstadt gefesselt haben. In dieser Zeit bin ich das geworden, was die deutschen Medien „Wein- oder Riesling-Papst“ nennen.

Jetzt, nach dem Brexit, gibt es für mich endgültig kein zurück mehr auf die Insel, weil meine ursprüngliche Heimat in eine fremdenfeindliche, nationalistische Richtung gerückt ist. Es ist durchaus zu befürchten, dass die Brexit-Befürworter bald mit einem halbfaschistischen Programm an die Macht kommen werden. Wein? Plötzlich hat es kaum Bedeutung mehr für mich. Denn der 24. Juni 2016 ist zu meinem persönlichen 30. Januar 1933 geworden!

Eigentlich hätte mich das ganze Geschehen nicht so schockieren müssen. Ich war am 23. Juni in Mainz, um in der 3sat Sendung „Kulturzeit“ meine Meinung zur kulturellen Entwicklung auf der Insel aus der Perspektive eines dort geborenen Kulturhistorikers preis zu geben (Ich bin 1960 in London geboren und habe von 1984-1986 Kulturwissenschaft auf der königlichen Kunstakademie in London studiert). Auf die Frage, wie die Volksabstimmung ausgehen würde, habe ich das Ergebnis und die unmittelbaren Folgen ziemlich genau vorausgesagt. Sie sind die logischen Konsequenzen der Lügen der Brexit-Befürworter. Doch auch die Sehnsucht nach dem verlorenen Weltreich steckt dahinter.

Im Flieger frage ich mich aus der Vogelperspektive, warum ich nicht mein ganzes Geld darauf verwettet habe? Dann wäre ich zumindest jetzt reicher, anstatt nur einer von 1,2 Millionen Briten in der EU mit einer weitaus unsichereren Zukunft. Aber hätte ich im Januar 1933 auch auf das Machtergreifen der Nazis gewettet? Nein, das wäre schrecklich!

Stattdessen habe ich eine kluge Figur vor der Fernsehkamera abgegeben und den Nationalcharakter meiner Landsleute stimmig beschrieben: Sie sind ein Inselvolk, das oft von oben herab auf die Menschen des „Continent“, bzw. das europäische Festland schaut. Mit Hilfe meiner Schlagfertigkeit habe ich mich von der bedrohlichen Wahrheit erfolgreich, wenn auch nur vorübergehend, distanziert. Am Ende der Sendung wurde ein trockener Rheingauer Riesling - J.B. Becker aus Walluf - vor der Kamera eingeschenkt und ich habe von meiner Weinheimat "deutscher Riesling" gesprochen, die mir unabhängig des Wahlergebnisses erhalten bleiben wird!

Anschließend bin ich mit dem Taxi in die Mainzer Weinbar Laurenz gefahren, in der ich einen letzten ungezwungenen Weinabend verbracht habe. Getrunken habe ich einen trockenen rheinhessischen Riesling: Tobias Knewitz aus Appenheim. Das hat mich aufgeheitert – allerdings war auch das nur ein Ablenkungsmanöver vor der heranrückenden Lawine.

Kurz nachdem ich in Berlin gelandet bin, erreichten mich die ersten Meldungen von meinen New Yorker Freunden. Ende 2012 ist der Big Apple zu meinem zweiten Wohnsitz geworden und ich erlebe die Welt auch aus dieser Perspektive. Meine Freunde berichteten wie die Wall Street einen baldigen Zusammenbruch der EU erwartet, aber die Wall Street hat nicht auf den Brexit gewettet und verfällt einfach in der nächsten Fehleinschätzung.
Nicht weniger als bei den Deutschen sind die Zukunftsvisionen der Amerikaner von einem Wunschdenken geprägt. Beide Gruppen, mit ihren unterschiedlichen Wünschen, suchen nach einer Selbstbestätigung anstatt zu fragen, was wirklich hinter der Entscheidung der Bevölkerung Großbritanniens steckt. Ich gehe davon aus, dass während der 1930er Jahre viele Menschen im Ausland sich auf sehr ähnliche Weise über den Aufstieg der Nazis getäuscht haben.

Durch den Schock aus ihrer optimistischen Haltung von den Vortagen geworfen, kommt Catwoman plötzlich auf eine sehr realistische Einschätzungen von dem was in meinem Heimatland kommen könnte: Neuwahlen, die zu einer Regierung in dem der konservative Boris Johnson (ein ehemaliger Journalist, der maßgeblich die Anti-EU-Haltung der britischen Medien geprägt hat) und dem rechtsradikalen Nigel Farage (der französisch-hugenottischer Abstammung ist) zusammen an der Spitze einer schwarz-tief schwarzen Koalition stehen werden.
Solche eine Konstellation wird mit ziemlicher Sicherheit wie ein Turbo für die Fremdenfeindlichkeit meiner Landsleute funktionieren und in diesem Fall erwarte ich innerhalb von ein paar Jahren die Eröffnung der ersten britischen KZs für unerwünschte Ausländer, politische Gegner und unbequeme Querköpfe. Ich bin nicht Mitglied einer politischen Partei aber mit meiner Haltung gehöre ich definitiv zur letzten Gruppe in UK.

Das alleine ist ein guter Grund mir einen anderen Pass zu holen, aber ich will auch unbedingt EU-Bürger bleiben. Das ist nicht nur eine Frage der Überzeugung, sondern auch eine praktische Sache für einen Journalisten, der viel über die Weine Europas schreibt. Ich könnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und würde diese - als braver BRD-Steuerzahler (seit dem 1. Januar 1994) und Journalist mit einer Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung - ziemlich sicher bekommen.
Das Problem wäre, dass mein amerikanisches Journalisten-Visum an meinem britischen Pass hängt. Keinesfalls will ich wieder von Anfang an – möglicherweise unter Präsident Trump! – ein neues US-Visum beantragen müssen. Das wäre extrem aufwendig und muss auch nicht unbedingt klappen.

Am Nachmittag des 24. Juni musste ich wieder vor die Fernsehkamera für 3sat; Dieses Mal direkt vor dem Brandenburger Tor. Die Redakteurin betonte, dass sie gerne ein ganz kurzes Statement von mir hätte, deswegen habe ich all diese Komplikationen nicht erwähnt, sondern einfach erwähnt, dass ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen werde. In diesem Moment war es für mich trotz allem der direkte Weg zur EU-Staatsbürgerschaft. Unmittelbar danach kommt Catwomans Bericht von der Rede der schottischen Premier Ministerin Nicola Sturgeon bei mir auf dem Handy an. Ein unabhängiges Schottland sieht plötzlich ziemlich wahrscheinlich aus, aber auch ein Schottland innerhalb der EU, Schengen und dem Euroland. Das wäre ein sicherer Hafen für mich innerhalb des ehemaligen UK. Das klingt vielleicht alles hirnrissig, aber das „Whiskyland“ Schottland hat ein langes freundschaftliches Verhältnis zu Frankreich und „Roter Bordeaux“, Sherry und Portwein wurden schon vor Jahrhunderten über den Seeweg nach Schottland exportiert. Also, so verrückt wäre dieser Schritt auch nicht. Vielleicht ist das die Lösung?

Wieder sind ein paar Tage vergangen und ich befinde mich in meinem Berliner Trott, sitze vorwiegend hier am Schreibtisch, gehe auch zur Bank, zur Post, in den Supermarkt. Irgendwie bin ich dann doch ein „deutscher Normalo“.

Ich möchte mir meine Lebensfreude nicht von den 52% meiner Landsleute, die im Gegensatz zu mir wählen durften und eine so „saudumme Entscheidung“ getroffen haben, nehmen lassen und gehe in der Bundessaufstadt aus: Ich treffe mich mit Vita Datura, eine ukrainische Modeschöpferin mit dänischem Pass und Berliner Wohnsitz ins chinesischen Restaurant Hot Spot, auch „Wu“ nach dem Betreiber Jianhua Wu genannt. Diese extrem bunte Mischung von Kulturen und Nationalitäten ist meine Antwort auf die eben genannte „saudumme Entscheidung“.

Vor mehr als 5 Jahren hat die New York Times über „Wu“ als gelungenes Beispiel kultureller Synergien geschrieben – längst bevor deutsche Journalisten diesen Aspekt seines Schaffens geschnallt haben. Im Hot Spot geht es um die genussvolle Kombination der chinesischen Küche (Shanghai und Szechuan) mit deutschem Riesling (nicht nur in seiner süßen Variante, sondern auch als trockener Wein), dem roten Bordeaux und anderen europäischen Gewächsen. Die Synergie zweier sehr unterschiedlicher Kulturen. Für „Wu“ ist das eine Selbstverständlichkeit, weil er es lebt.

England und Deutschland oder Deutschland und Dänemark scheinen uns einander viel Näher als China und Deutschland, da sie nicht so nahe bei einander sind, wie wir glauben, Menschen der gleichen Nationalität es sind. Aber die Wahrheit ist: Zwischen allen Menschen gibt es Distanzen, die überwunden werden müssen und die gemeinsame Freude am Wein und Essen kann ein wichtiges Hilfsmittel dabei sein. Ich studiere die mir schon längst vertraute Speisekarte des Hot Spot, während ich auf Vita warte. Gurken und Qualle müssen sein, aber auch die mit Teeblättern geräucherte Ente darf nicht fehlen, denke ich.

Da ist sie! Das himmelblaue Kleid ist eine ihrer schlichteren Kreationen und stellt viel weniger Fleisch zur Schau als manch gewagtes Teil ihres Ateliers. Trotzdem sieht sie wie ein Filmstar aus! Auf ihren Wunsch nach einem interessanten trockenen Weißwein bringt „Wu“ das Wehlener Sonnenuhr Riesling Große Gewächs aus dem Jahr 2014 von Dr. Loosen an der Mosel. Er schmeckt ihr genauso wie mir.

Als Jugendlicher war der Ärmelkanal ein kleines Ärgernis für mich, das ich oft überwinden musste, um an die Mosel und andere europäische Weingebiete zu kommen. Aber jetzt kommt er mir eher vor wie ein Graben einer Burg über den die Zugbrücke gerade hochgezogen wurde. Die Gurke und der Wein schmecken traumhaft zusammen und es ist wieder ein toller Abend im Hot Spot – aber eben genanntes Bild bleibt hartnäckig in meinem Kopf.

Ich stelle mir die Frage, ob meine Prognosen für die politische Entwicklung meines ursprünglichen Heimatlands zu düster sind, sondern auch ob dieses Bild der Zukunft der britischen Kultur entspricht oder nicht. Werden europäische Botschaften wie der deutsche Wein weiter ankommen? Ein Wechselkurs ist eine banale Tatsache, aber das Pfund ist innerhalb weniger Tage so dermaßen abgestürzt, dass für meine Landsleute Flaschen – wie diese auf dem Tisch vor mir – sich schlagartig verteuert haben. Was sind sie den Engländern wirklich wert?

Nachtrag

Seitdem ich diesen Text geschrieben habe, sind rund vier Monate vergangen und es ist eine ganze Menge passiert. Zuerst sind beide großen Volksparteien (Conservative und Labour) in eine tiefe Krise gestürzt und mein Heimatland hatte weder eine funktionierende Regierung noch eine taugliche Opposition. Nigel Farage und Boris Johnson haben sich auf peinliche Weise aus dem Staub gemacht. Noch schlimmer, es sah aus, als ob dieses Chaos noch Monate anhalten wurde. In dieser Zeit haben mehr als 4 Millionen Menschen online für einen zweiten Volksentscheid zum Thema „Brexit“ gestimmt.

Dann kam es zu einem überraschend klaren Sieg für Theresa May als neue Chefin der Conservative Partei und sie ist damit am 13. Juli auch Premierministerin geworden. Endlich Ruhe? Nein! Am gleichen Tag hat sie Boris Johnson zum Außenminister ernannt und innerhalb Wochen wurde er von seinen französischen und amerikanischen Amtskollegen öffentlich als Lügner gedemütigt. Theoretisch muss er zahlreiche Handelsabkommen mit anderen Ländern innerhalb von zwei Jahren verhandeln, aber wie soll das jetzt gehen?

Noch schlimmer: May hat sich entschieden mit dem Ausrufen von Artikel 50 abzuwarten, bzw. den konkreten Schritt des Brexit in die Tat umzusetzen. Inzwischen redet sie davon, diesen auf Januar oder Februar 2017 zu verschieben, möglicherweise in der Hoffnung zwischenzeitlich bei Neuwahlen als Siegerin raus zu kommen. Auf alle Fälle ist ihr Versuch den Brexit zu einem positiven Schritt für Großbritannien darzustellen gescheitert und auch sie spricht mittlerweile von negativen Folgen. Das klingt alles nicht wie ein erfolgreicher Wahlkampf.

Für die Inselmenschen am Nordwestrand von Europa steht jetzt alles auf dem Spiel. Falls es die nächste Monate Unruhen auf den Finanzmärkten gibt, wird der Pfund (aufgrund der großen Unsicherheit) wahrscheinlich wieder massiv unter Druck kommen. Die Brexit-Gegner glauben nach wie vor an die Zukunft meines Heimatlandes als Teil von Europa, aber 48% und über 4 Millionen Stimmen reichen nicht, um den historischen Bruch zu vermeiden. Die Folgen sind schwer vorauszusagen. Für mich persönlich bleibt es ein Desaster.

Dieser Artikel ist in Schluck - Naturwein - Ausgabe 2 erschienen.
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Über Stuart Pigott

Der britische Weinautor (u.a. Wein spricht deutsch, Rock Stars of Wine America) und selbsternannte Gonzo­ Journalist gilt als Rockstar der Szene.
International ist er als einer der besten Kenner des deutschen Weins anerkannt. Seit den 1990er­ Jahren lebt Stuart Pigott in New York und Berlin. Er schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Stuart Pigott unterstützt mit seinem Projekt „Wein hilft. Weinliebhaber gegen AIDS“ die Deutsche AIDS-Stiftung.

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